Dreieich 1933 bis 1945

Weibelfeldschule – LK Geschichte, Mai 2005

Sozial- und Bevölkerungsstruktur

Die Stadt Dreieich besteht, wie Sie wahrscheinlich wissen, erst seit 1977. Sie entstand aus der Zusammenlegung der bis dahin selbständigen Gemeinden Sprendlingen, Buchschlag, Dreieichenhain, Götzenhain und Offenthal. Wenn wir über die NS-Zeit in Dreieich sprechen, meinen wir also fünf eigenständige Städte und Dörfer. Und nicht nur selbständige, sondern auch sehr unterschiedlich strukturierte Gemeinden.

Unterschiedlich war zum einen die Größe der Orte. Sprendlingen war mit fast 8000 Einwohnern mit Abstand die größte Gemeinde, gefolgt von Dreieichenhain mit 2500 Bewohnern. In Götzenhain, Offenthal und Buchschlag wohnten jeweils ca. 1000 Menschen.

Unterschiedlich waren auch die Berufe der Einwohner in den verschiedenen Gemeinden und die sozialen Verhältnisse, in denen die jeweilige Bevölkerung lebte. Wir haben es zu tun mit zwei Arbeiterwohngemeinden, nämlich Sprendlingen und Dreieichenhain. Sprendlingen war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als „Dorf der Maurer und Pflasterer“ bekannt. Diese Beschreibung traf während der NS-Zeit durchaus noch zu, und zwar nicht nur auf Sprendlingen, sondern auch auf Dreieichenhain: Jeweils ein Drittel der Berufstätigen arbeitete im Baugewerbe, die meisten waren einfache Bauarbeiter.

Ganz anders waren die Verhältnisse in Buchschlag. Buchschlag war eine großbürgerliche Villensiedlung, in der wohlhabende Freiberufler, wie Ärzte, Künstler, Wissenschaftler und Ingenieure, und außerdem höhere Beamte und Angehörige des Militärs lebten.

Götzenhain und Offenthal schließlich waren landwirtschaftlich strukturierte Dörfer. Allerdings waren sie gerade in einem Wandel begriffen – einem Wandel vom Bauerndorf zum Arbeiterwohnort. Eine wachsende Zahl der Einwohner bewirtschaftete ihre Felder nur noch im Nebenerwerb, verdiente jedoch ihren Haupt-Lebensunterhalt als Arbeiter in der Frankfurter oder Offenbacher Industrie.

Warum erzähle ich Ihnen das? So unterschiedlich wie die soziale Zusammensetzung der Einwohnerschaft war auch deren politische Einstellung – und die Durchsetzungskraft der NSDAP in den einzelnen Gemeinden.

In Sprendlingen und Dreieichenhain dominierten bis zum Ende der Republik die Parteien der Arbeiterbewegung – SPD und KPD. Die NSDAP hatte hier schlechte Wahlchancen – und zwar über die Machtergreifung hinaus. Noch bei der Reichstagwahl am 5. März 1933 blieb die NSDAP in Sprendlingen mit 34 % der Stimmen um 10 % unter dem Reichsschnitt, in Dreieichenhain war sie sogar nur drittstärkste Partei hinter der führenden KPD und der SPD.

In Offenthal und Götzenhain waren die Arbeiterparteien während der Weimarer Republik ebenfalls stark, hatte aber starke bürgerliche Konkurrenz – nämlich die Hessische Landvolkpartei, das war die politische Vertretung der hessischen Bauern, eine eher konservative Partei. Wie sie wissen, zerfielen die konservativen und liberalen Parteien in der Endphase der Weimarer Republik, einer Phase politischer Radikalisierung. Das gilt auch für das Hessische Landvolk. Seine früheren Wähler in Götzenhain und Offenthal wandten sich nun mehrheitlich der NSDAP zu. Deshalb konnte die NSDAP bei der letzten demokratischen Reichstagswahl der Weimarer Republik im November 1932 dort zur stärksten Partei aufsteigen – mit 40 % der Stimmen in Götzenhain und knapp 50 % in Offenthal.

In Buchschlag spielten die Arbeiterparteien keine Rolle. Hier waren die liberalen Parteien DDP und DVP und die monarchistische DNVP besonders stark. Durch deren Niedergang Anfang der 1930er Jahre hatte die NSDAP in Buchschlag besonders leichtes Spiel. Bereits bei der Reichstagswahl im Juli 1932 errang sie die absolute Stimmenmehrheit – mit satten 59,5 %.

 

Machtergreifung und Machtsicherung in den Dreieichgemeinden

Die Dreieichgemeinden gehörten während der Weimarer Republik auf Landesebene zum Volksstaat Hessen mit der Landeshauptstadt Darmstadt. Nach der NSDAP-Machtergreifung im Reich am 30. Januar 1933 blieb die hessische Landesregierung vorläufig im Amt. An der Spitze Hessens stand eine Koalition aus SPD, DDP und Zentrum unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Adelung. Anders als in den Ländern mit nationalsozialistischer Regierungsbeteiligung setzte die Regierung Adelung die Notverordnungen vom Februar 1933, die u. a. die Presse- und Versammlungsfreiheit einschränkten, nicht einseitig und gezielt gegen die NS-Gegner ein, so dass die NS-Gegner in Hessen bis zur Reichstagswahl am 5. März noch relativ frei politisch handeln konnten. So erklärt sich, dass die SPD und die ihr nahestehenden Organisationen, die „Eiserne Front“ und das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, im Dreieichgebiet noch im Februar 1933, also nach der NS-Machtergreifung, große Demonstrationen gegen den Nationalsozialismus organisieren konnten. Am 19. Februar marschierten 800 Menschen von Dreieichenhain nach Offenthal und Götzenhain, um gegen den Nationalsozialismus zu demonstrieren. Eine Woche später, am 26. Februar, bekundeten in Sprendlingen noch einmal 2000 Personen ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus. Die sozialdemokratische Regionalzeitung „Offenbacher Abendblatt“ berichtete am 27. Februar über diesen Aufmarsch in Sprendlingen:

„So etwas hatte Sprendlingen noch nicht erlebt. Mögen die Goebbels usw. in einseitiger Ausnützung des Rundfunks trommeln soviel sie wollen und vom »Aufbruch der Nation« reden. Solche Demonstrationen […] werden und können sie so einfach nicht nachmachen […]. Jawohl, das werktätige und freiheitlich gesinnte Deutschland ist erwacht und wird Recht und Freiheit zu verteidigen wissen. Die Freiheitsarmee steht und wird sich als der Fels aus Granit erweisen, an dem sich die Feinde des Marxismus die Zähne ausbeißen werden. Freiheit!“

Wie wir wissen, waren solche Hoffnungen und Prognosen illusionär. Denn zu diesem Zeitpunkt – im Februar 1933 – war der Kampf um die politische Herrschaft im Deutschen Reich längst zugunsten der NSDAP entschieden.

Die NSDAP wartete die Reichstagswahl vom 5. März 1933 ab, bevor sie im Volksstaat Hessen der Regierung Adelung ein Ende setzte. In Darmstadt brachen einen Tag nach der Reichstagswahl, also am 6. März, Unruhen aus. Heute wissen wir, dass sie von der SS und der SA angezettelt worden waren, um der Reichsregierung eine Handhabe gegen die Landesregierung zu geben. Angeblich um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, entmachtete von Berlin aus der nationalsozialistische Reichsinnenminister Frick den Hessischen Ministerpräsidenten und setzte an seine Stelle kommissarisch den Landtagsabgeordneten der NSDAP Dr. Müller. Die Landespolizei unterstellte er einem Kommissar der Reichsregierung. Ausgerechnet die SA, von der die Krawalle hauptsächlich ausgegangen waren, wurde zur Hilfspolizei ernannt und sollte für Ordnung sorgen. In der Nacht zum 7. März wurde das Hessische Innenministerium besetzt, die dort stationierte Bereitschaftspolizei entwaffnet und auf allen Amtsgebäuden Hakenkreuzflaggen gehisst.

Am Tag nach dieser Machtergreifung im Land folgte die Machtübernahme der NSDAP in den hessischen Gemeinden. Die Aktion lief – von der NSDAP-Gauleitung gut organisiert – in den einzelnen Städten und Dörfern gleichförmig und gleichzeitig ab. Die NSDAP übernahm zunächst die örtliche Polizeigewalt, besetzte die Rathäuser und andere Verwaltungseinrichtungen und jagte die Bürgermeister und ihre Stellvertreter, d. s. die Beigeordneten, aus ihren Ämtern. So, wie beschrieben, dürfte sich die Machtergreifung auch in Dreieich abgespielt haben. Details kann ich Ihnen allerdings nicht berichten. Es gibt dazu keine Quellen – keine Zeitungsberichte, keine amtlichen Aufzeichnungen.

Nach der Besetzung der Rathäuser durch die SA begann eine erste Phase der Machtsicherung. Die NSDAP ging zunächst mit brutaler Gewalt gegen Sozialdemokraten und Kommunisten vor. Diesen Terror propagierte sie in der Öffentlichkeit als „Großangriff auf alles Nichtdeutsche“. Damit wollte sie der Bevölkerung einreden, nur Nationalsozialisten seien wirkliche Deutsche. In der Schlussfolgerung hieß das: Jeder, der sich nicht zum Nationalsozialismus bekannte, schloss sich aus der Gemeinschaft des deutschen Volkes aus und war damit vogelfrei.

Ausführende Organe des nationalsozialistischen Terrors waren die SA und die SS. Führende Sozialdemokraten und Kommunisten aus den Dreieichgemeinden mussten fliehen und sich verstecken. Diejenigen, die nicht untergetaucht waren, wurden aus ihren Häusern gezerrt und zusammengeschlagen. Solche Prügelszenen spielten sich an versteckter Stelle im Wald oder z. B. im Keller des Sprendlinger Rathauses ab, aber auch vor den Augen der Öffentlichkeit, und zwar ganz bewusst – zur Abschreckung.

Mitte März 1933 hatte sich in einem Steinbruch nahe Götzenhain die KPD des Bezirks Frankfurt zu einem geheimen Treffen versammelt. Das Treffen flog durch eine Denunziation auf, die Teilnehmer wurden überrascht, verhaftet und nach Langen ins Polizeigefängnis gebracht. Was mit ihnen dort geschah, rief dreißig Jahre später Rudi Gottschalk, einer der damals Verhafteten, den Lesern der Langener Zeitung ins Gedächtnis. In einem 1963 veröffentlichten Beitrag schrieb er:

„Im Rathauseingang links war die Polizeiwache. Es war die erste Station: Prügel und Entsetzensschreie klangen mir hier entgegen, als ich von zwei Schwerbewaffneten eingeliefert wurde[…]. In einem zweiten Zimmer […]tagte das sog. „Gericht“: »Aha, da kommt ja so einer mit einer jüdischen Intelligenzfresse« – Kinnhaken von rechts, Kinnhaken von links. Fußtritte in die Hoden, auf ihn mit Gebrüll, und es fließt Blut. Es reißt nicht ab mit Zugängen. […] Und dann ab in die Arrestzelle im Untergeschoss des Rathauses und wenn in den Zellen kein Platz mehr war, dann halfen Fußtritte und Gummiknüppelhiebe nach, um auf engstem Raum für die aus Mund und Nase Blutenden noch Platz zu schaffen.“

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Am selben Tag sprengten in Offenthal ein ortsansässiger SA-Mann und ein SS-Mann aus Neu-Isenburg die Übungsstunde des Arbeitervereins „Freie Sport- und Sängervereinigung“. Die Anwesenden wurden verhaftet. Gleichzeitig spürten andere SA- und SS-Leute in der Gemeinde weitere Gegner der NSDAP auf und nahmen diese ebenfalls fest. Die Verhafteten wurden mit einem Polizeiwagen in den Wald zwischen Offenthal und Langen gebracht. Dort wurden sie mit Pistolen bedroht und derart brutal getreten und geschlagen, dass einer der Misshandelten einen dauerhaften gesundheitlichen Schaden davontrug.

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Die führenden Kommunisten und Sozialdemokraten, die während der Weimarer Republik Parteiämter bekleidet hatten, blieben im Visier der örtlichen und regionalen NS-Führungen. Sie mussten sich noch monate- manche auch jahrelang regelmäßig bei der örtlichen Polizei melden. Unter den Observierten waren in Sprendlingen zwei über Dreieich hinaus bekannte Repräsentanten der Arbeiterbewegung – Wilhelm Anthes IV, der von 1921 bis 1932 Landtagsabgeordneter der SPD gewesen war, und Katharina Roth, hessische Landtagsabgeordnete der KPD von 1921 bis 1927.

Über Wilhelm Anthes konnte ich nicht viel herausfinden. Katharina Roth stammte aus einfachen Verhältnissen. Sie arbeitete vor ihrer Ehe als Dienstmädchen in Frankfurt. 1907 trat sie zusammen mit ihrem Mann Jakob in die SPD ein. Damals durften Frauen erst seit ein paar Jahren Mitglieder in politischen Parteien werden und waren noch lange nicht wahlberechtigt. 1917, also im Ersten Weltkrieg, gehörten Katharina und Jakob Roth zu den Sozialdemokraten, die unter dem Eindruck der Russischen Revolution und aus Protest gegen die Zustimmung der SPD zu staatlichen Kriegsanleihen die SPD verließen und die USPD gründeten. Nach Kriegsende, 1920, als die Mehrheit der USPD-Mitglieder zur SPD zurückkehrte, wechselten beide zur KPD. Jakob Roth wurde KPD-Vorsitzender in Sprendlingen, Katharina Roth machte sich ab 1924 im hessischen Landtag einen Namen als Sozial- und Frauenpolitikerin. Sie wird beschrieben als eine Frau, die stets leise auftrat, sich aber unbeirrt in eine Sache verbiss, wenn sie ihr wichtig war. Im Gegensatz dazu war ihr Mann in Sprendlingen als wortgewaltiger Volkstribun und fesselnder Redner bekannt. Katharina Roth setzte sich im Landtag vor allem für sozial Schwache ein und kämpfte gegen den § 218 des Strafgesetzbuches, der Abtreibungen unter Strafe stellte. 1927 musste sie aus dem Landtag ausscheiden, denn Katharina und Jakob Roth hatten sich einer Gruppe angeschlossen, die in Opposition zur offiziellen Parteilinie der KPD stand. Deshalb waren sie vorübergehend aus der KPD ausgeschlossen worden.

Was ist an der Karriere von Katharina Roth so bemerkenswert? Die Sprendlingerin war eine von nur 12 Frauen, die während der Weimarer Republik den Sprung als Abgeordnete in den hessischen Landtag schafften. Heute ist sie in Sprendlingen fast vergessen.

 

Zurück zu den Verhältnissen im Jahr 1933: Es gelang den Nationalsozialisten in Dreieich in relativ kurzer Zeit, die Widerstandspotentiale von SPD und KPD nachhaltig zu zerschlagen. Die Brutalitäten der SA und SS in der Machtergreifungsphase verfehlten ihre Wirkung nicht. Über den Sommer 1933 hinaus ist keine organisierte politische Widerstandsaktion mehr belegt. Der letzte dokumentierte Widerstandsakt war ein KPD-Treffen in einem Privathaus im August 1933. Es flog auf, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden verhaftet und vom Sondergericht Darmstadt verurteilt. Die härtesten Strafen wurden gegen Katharina und Jakob Roth verhängt. Sie mussten jeweils für ein Jahr ins Gefängnis.

Einige Kommunisten aus Dreieich arbeiteten weiter im Widerstand außerhalb ihres Heimatortes, meist an ihren Arbeitsplätzen in den Großstädten des Rhein-Main-Gebietes. Einer, Johann Knöchel, bezahlte dafür mit seinem Leben. Er starb 1937 nach Misshandlungen in der Polizeihaft im Alter von 33 Jahren. Konrad Jost aus Götzenhain kam im September 1943 im KZ Auschwitz ums Leben. Er war im Frühjahr 1933 wegen illegaler politischer Arbeit für die KPD zu 13 Monaten Haft verurteilt worden. Ob er nach der Verbüßung direkt in ein KZ überwiesen wurde und bis 1943 eingesperrt blieb oder ob er zunächst wieder freigelassen und später noch einmal inhaftiert wurde, wissen wir nicht.

 

Nach der Terrorwelle im Frühjahr 1933 konzentrierte sich die NSDAP auf die „Gleichschaltung“ der wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen in den Gemeinden. Dazu zählten die Gemeindeparlamente, die Gemeindeverwaltungen, die Kirchengemeinden und die Vereine.

Zur „Gleichschaltung“ der Gemeindeparlamente, d.s. die Gemeinderäte, schrieben die neuen Machthaber nicht etwa Wahlen aus, sondern übertrugen zunächst die lokalen Ergebnisse der Reichstagswahl vom 5. März 1933 auf die Sitze in den Gemeinderäten. Hatte eine Partei z. B. bei der Reichstagswahl 10 % der Stimmen erhalten, so sprach man ihr nun 10 % der Gemeinderatsmandate zu. Dieses ohnehin nur noch pseudodemokratische Verfahren wurde völlig ad absurdum geführt, weil die Stimmen für die KPD einfach unberücksichtigt blieben. Das waren in Sprendlingen mehr als ein Viertel der Stimmen, für Dreieichenhain über 40 %.

Die SPD wurde im April 1933 mit Gewalt dazu gebracht, auf die Mandate zu verzichten, die ihr nach diesem Verfahren in den Parlamenten der Dreieichgemeinden noch zugestanden hätten. Die frei werdenden Sitze wurden kurzer Hand mit Nationalsozialisten besetzt, so dass bald nur noch NSDAP-Vertreter in den Gemeinderäten saßen.

 

Wie schon berichtet, waren die Wahlbeamten aus der Weimarer Republik, also die Bürgermeister und Beigeordneten, bereits Anfang März verjagt und durch Nationalsozialisten ersetzt worden.

Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 schuf der NS-Staat kurze Zeit später die rechtliche Grundlage, um neben den Wahlbeamten auch politisch missliebige Berufsbeamte aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Entlassen wurden Beamte, die (Gesetz) „nach bisheriger politischer Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten […]“. Zu diesen Beamten gehörte nach Ansicht der neuen Machthaber der Schutzpolizist Engel aus Dreieichenhain. Er war Mitglied der SPD gewesen und bereits im Zuge der Machtergreifung festgenommen und misshandelt worden. In der Begründung seiner Entlassung heißt es u. a.:

„Sein Verhalten der nationalen Bewegung gegenüber vor der Machtergreifung war feindlich. Bei dem Turnfest des aufgelösten freien Turnvereins im Juli 1932 nahm er durchfahrenden Nationalsozialisten gegenüber eine drohende Haltung ein und rief mit der Menge den Eisernen-Frontgruß „Freiheit“. In der Wahlnacht am 31. Juli 1932 ließ er, ohne einzugreifen, Vorbereitungen der Eisernen Front und der KPD zu Überfällen auf Nationalsozialisten stillschweigend geschehen. […] Engel gibt sich heute alle Mühe, sein Amt gewissenhaft zu erfüllen. Trotzdem muss bezweifelt werden, dass Engel die Gewähr dafür bietet, sich restlos für den nationalen Staat einzusetzen.“

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Es liegt im Wesen jedes totalitären Staates, nicht nur Politik und Verwaltung, sondern das gesamte öffentliche Leben kontrollieren und beeinflussen zu wollen. Gleichzeitig mit der Gleichschaltung der örtlichen Parlamente und der kommunalen Verwaltungen nahmen die neuen Machthaber deshalb Zugriff auf Kirchen und Vereine.

Sie wissen vermutlich, dass sich während der Industrialisierung in Deutschland eine gesellschaftlich zweigeteilte Vereinslandschaft herausgebildet hatte. Arbeiter waren in Arbeitervereinen, die bürgerliche Mittelschicht in sog. bürgerlichen Vereinen organisiert.

Die neuen Machthaber lösten als erstes die Arbeitervereine auf. Sie fürchteten diese als mögliche Sammelbecken politischen Widerstands, weil ihre Mitglieder der SPD und der KPD nahe standen. Der Liquidation fielen in Sprendlingen die „Turngesellschaft Sprendlingen“ und der „Kraft-Sport-Klub“ zum Opfer. In Dreieichenhain wurden der „Freie Turnverein“ und die Gesangvereine „Eintracht“ und „Lassalle“ aufgelöst. In Götzenhain fielen die „Freie Sportvereinigung“ und der Arbeiter-Gesangverein „Eintracht“ der Auflösung zum Opfer, in Offenthal die „Freie Sport- und Sängervereinigung“.

Die bürgerlichen Vereine durften in der Regel bestehen bleiben, wurden aber „gleichgeschaltet“. Sie beriefen NSDAP-Mitglieder in ihre Vorstände und entließen missliebige Mitglieder, vor allem Juden. Alle Vereine wurden nach dem Führerprinzip umgestaltet. Nun waren es nicht mehr die Mitglieder, die den Vorstand wählten und bei wichtigen Entscheidungen das Vorgehen des Vereins bestimmten. Der Vereinsvorsitzende, jetzt „Vereinsführer“ genannt, wurde vom Ortsgruppenleiter der NSDAP bestimmt. Dem „Vereinsführer“ waren alle Vereinsmitglieder untergeordnet. Die Struktur der Vereine spiegelt damit im Kleinen die Struktur des NS-Staates wider: Ein Führer stand der Masse derjenigen gegenüber, die ihm bedingungslos sog. „Gefolgschaft“ zu leisten hatten.

Angesichts solcher Strukturen verwundert es nicht, wie unsolidarisch sich die sog. „bürgerlichen“ Vereine verhielten, wie wenig Skrupel ihre Vertreter hatten, von der Auflösung der Arbeitervereine zu profitieren. Sie übernahmen die Hallen, Grundstücke, Sportgeräte und Musikinstrumente der verbotenen Organisationen – natürlich zu günstigen Preisen. In den kleinen Dreieichgemeinden, in denen jeder jeden kannte und auch jeder in irgendeinem Verein aktiv war, sorgte das, wie Sie sich denken können, für ziemlich viel „böses Blut“.

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Die Gleichschaltung traf im Sommer 1933 auch die Kirchengemeinden. Sie schien der NSDAP in Dreieich keine Probleme zu bereiten, zumal in fast allen Gemeinden Pfarrer wirkten, die sich politisch angepasst verhielten oder gar, wie Pfarrer Creter von der Burgkirchengemeinde in Dreieichenhain, geradezu begeistert auf den politischen Umbruch reagierten. In seiner Kirchenchronik hielt er z. B. nach der Reichstagswahl und der Volksabstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund vom 12. November 1933 fest:

„Alles für Hitler! Die Volksabstimmung […] brachte auch in unserer Stadt einen überwältigenden Sieg für den Volkskanzler Adolf Hitler und seine Politik. […] Gott sei Dank, dass unser geliebtes deutsches Volk endlich wieder einmal einig ist […]! Möge daraus auch ein rechter Segen für unsere liebe evangelische Kirche und ihren Dienst am Evangelium erwachsen!““

Mit dieser Haltung stand Pfarrer Creter unter seinen Kollegen nicht allein. Die evangelische Kirche in Deutschland hatte die Weimarer Republik bekämpft, aus Furcht, dass die Demokratie zu einer Verweltlichung der Gesellschaft und damit zu einer Entfremdung der Menschen von der Kirche führen könnte. Ihr Ideal war die Monarchie – der hierarchische Obrigkeitsstaat, nicht der demokratische Pluralismus. Diesem Ideal kam der nationalsozialistische „Führerstaat“ – gerade nach den politischen Wirren in der Endphase der Weimarer Republik – entgegen.

Jedoch ausgerechnet in Buchschlag, der Ortschaft, in der die NSDAP so früh und so steil aufgestiegen war, sollte bald ein heftiger Kirchenkampf toben. Die evangelische Gemeinde und ihre Pfarrer stellten sich 1934 auf die Seite der Bekennenden Kirche. Zur Erinnerung: Die Bekennende Kirche richtete sich nicht gegen den Nationalsozialismus und die NS-Herrschaft an sich. Aber sie kämpfte gegen die Verzerrung und Inanspruchnahme der evangelischen Glaubenslehre durch den NS-Staat. Der Buchschlager Pfarrer Ludwig Schäfer schrieb 1935 in die Kirchenchronik:

„Als rein politisches Ereignis war mir natürlich der Kampf und Sieg des Nationalsozialismus ein großes und erfreuliches Erlebnis gewesen. Nur gegen die Vermischung von Politik und christlichem Glauben habe ich mich bewusst zur Wehr gesetzt.“ (Gestapohaft)

Die Auseinandersetzung mit der NS-Kirchenpolitik eskalierte in Buchschlag im Frühjahr 1935. Als sich die Gemeinde weigerte, den nationalsozialistischen Landesbischof Dietrich anzuerkennen, ließen die NS-Behörden die Kirchenräume Mitte März 1935 polizeilich schließen. Pfarrer Ludwig Schäfer lud die Gemeinde daraufhin kurzerhand zum Gottesdienst ins Pfarrhaus ein, woraufhin er verhaftet wurde. Drei Wochen wurde er in Offenbach in Gestapo-Haft gehalten. Danach kehrte er nach Buchschlag zurück, obwohl ihn der Landesbischof zwangsweise versetzt hatte.

Anfang April wurde auch Schäfers Stellvertreter, Pfarrvikar Weber, festgenommen. Er wurde im Zuge einer Verhaftungswelle aus seiner Gemeinde gerissen, mit der der NS-Staat auf eine Kanzelerklärung der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistische Kirchenpolitik reagierte. Helmut Weber traf es noch schlimmer als Ludwig Schäfer. Er wurde zwei Monate lang im KZ Dachau eingesperrt.

Pfarrer Schäfer gab seinen Widerstand im Mai 1935 auf und verließ Buchschlag. Der Landesbischof hatte ihm mit Berufsverbot gedroht. Schäfer hatte Angst, seine Familie nicht mehr ernähren zu können. Die Buchschlager Gemeinde aber kämpfte weiter. Als der Landesbischof den regimetreuen Theologen Schöttler mit der Pfarrstelle in Buchschlag betraute, verweigerte der Kirchenvorstand ihm die Zusammenarbeit – mit der Begründung, Kooperation mit Schöttler sei Verrat.

Die Gleichschaltung der evangelischen Gemeinde in Buchschlag war damit gescheitert. Und nicht nur das: Die anderen evangelischen Gemeinden in Dreieich schlossen sich der Kritik an der offiziellen Kirchenpolitik an. Alle Pfarrer unterzeichneten 1937 einen eindringlichen Aufruf zur Rückbesinnung auf die evangelische Glaubenslehre.

 

Verfolgung der jüdischen Einwohner

In Sprendlingen lebten nach der Volkszählung vom Juni 1933 174 Juden. Das ist eine Minderheit in der Bevölkerung von 2 %. Es gab eine jüdische Gemeinde und eine kleine Synagoge. Sie stand in einem Hinterhof in der Rathausstraße, dem alten Sprendlinger Rathaus gegenüber. Hier war das Zentrum des religiösen Lebens der Juden in Dreieich, aber auch der Juden aus Neu-Isenburg, die keine eigene Gemeinde hatten.

Außerdem existierte in Sprendlingen – und existiert auch noch heute – ein jüdischer Friedhof – er liegt inmitten des christlichen Friedhofs.

In der Hellgasse gab und gibt es eine Mikwe, d. i. ein rituelles Bad, in dem sich gläubige Männer und Frauen, die nach den religiösen Vorstellungen des Judentums unrein geworden sind, reinigen müssen.

In Dreieichenhain wohnten 1933 fünf jüdische Familien mit insgesamt 18 Personen. Sie hatten keine Synagoge, aber in der Fahrgasse einen eigenen Betsaal und einen Friedhof. In Götzenhain lebte nur eine jüdische Familie, die Metzgerfamilie Bendheim, die aus vier Personen bestand. In Offenthal gab es keine jüdischen Einwohner.

In Buchschlag lebten Juden, wir kennen aber keine Zahlen, weil die Gemeindeakten am Kriegsende vernichtet wurden. Nach mündlicher Überlieferung konnte sich mindestens ein jüdischer Einwohner nach England retten. Dagegen wurde Johanna Woeller, geb. Löwenstein, die mit einem Nicht-Juden verheiratet war, Ende April 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie ein halbes Jahr später starb.

Die Juden in den Dreieichgemeinden waren keine Fremden, etwa mit ungewohntem Aussehen und fremden Gewohnheiten, sondern ihre Familien lebten seit Jahrhunderten integriert in Hessen. Sie unterschieden sich äußerlich nicht von den christlichen Einwohnern, gingen eben nur am Samstag in die Synagoge statt am Sonntag in die Kirche und hatten ihre eigenen Feiertage. Die meisten jüdischen Einwohner besaßen kleine Geschäfte.

Das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden vor 1933 war ein unverkrampftes Miteinander. Dazu zwei Beispiele: Als 1920 die evangelische Kirche in Sprendlingen zu Spenden für eine neue Kirchenglocke aufrief, war es ein jüdischer Einwohner, Salomon Wolf, der sich am großzügigsten an der Sammlung beteiligte. Als Dank läuteten die Glocken der evangelischen Kirche, als Salomon Wolf starb.

Und das zweite Beispiel: Wenn der Sprendlinger Fußballverein ein Auswärtsspiel hatte, war der jüdische Kaufmann Emil Bendheim ein gefragter Mann, denn er besaß einen der wenigen Lastwagen in Sprendlingen. Auf diesen LKW verfrachtete Emil Bendheim regelmäßig alle Sprendlinger Fans und fuhr sie zum Spiel.

 

Das alles änderte sich 1933. Die erste gezielte staatliche Aktion gegen die deutschen Juden während der NS-Zeit fand schon kurz nach den lokalen Machtergreifungen, nämlich am 1. April 1933, statt. An diesem Tag, einem Samstag, zogen auch in Dreieich SA-Posten vor den Geschäften jüdischer Inhaber auf. Wie der Boykott in Dreieichenhain ablief, dazu haben wir eine kurze Information von Irene Wolf, der Tochter eines jüdischen Schuhmachers . Sie erzählte in einer Erinnerungsbefragung 1980:

„Am 1. April 1933 boykottierte die SA auch unser Schuhgeschäft. SA-Männer in Uniform, die aus Dreieichenhain stammten, standen vor dem Eingang und ließen niemanden herein. Später wurden abends immer wieder Backsteine gegen das Brett geworfen, das nachts unser Schaufenster sicherte. Wenn die SA durch das Dorf marschierte und ihre Lieder sang, schlossen wir unser Geschäft, weil wir verängstigt waren und nicht provozieren wollten. Wir unterhielten uns bald nicht mehr mit Bekannten auf der Straße, denn wir wollten vermeiden, dass sie deswegen angefeindet wurden. Ich glaube, wir fühlten uns damals selbst minderwertig.“

Soweit bekannt, reagierten die Dreieicher auf den Boykott nicht eben begeistert, aber sie wehrten sich auch nicht. Die meisten blieben einfach zu Hause und kauften an einem anderen Tag ein. War die Aktion deshalb ein Misserfolg für die NSDAP? Keineswegs: Die Aktion am 1. April war ein erster Test, wie die Bevölkerung auf anti-jüdische Aktionen reagieren würde. Das Stillhalten der nicht-jüdischen Bevölkerung genügte den Machthabern zunächst. Darauf ließ sich nach und nach die weitere Entrechtung und gesellschaftliche Isolierung der Juden aufbauen. Der Boden für die antisemitische Gesetzgebung war bereitet.

Nur eine Woche nach dem Boykott wurde das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erlassen, das außer den NS-Gegnern auch jüdische Beamte aus ihren Ämtern entfernte.

Das Berufsbeamtengesetz traf in Sprendlingen mit Leopold Kaufmann einen sehr geachteten, engagierten und äußerst beliebten Lehrer der Sprendlinger Volksschule. Kaufmann musste aus dem Schuldienst ausscheiden, zog schließlich 1938 nach Frankfurt und konnte dort noch einmal für kurze Zeit seinen Beruf an einer jüdischen Privatschule ausüben. Während des Krieges wurde er deportiert und schließlich mit seiner Ehefrau und drei Brüdern im KZ Auschwitz ermordet. Leopold Kaufmanns Tochter Miriam überlebte, weil sie rechtzeitig ausgewandert war.

Nur wenig später als Leopold Kaufmann wurde ein zweiter Lehrer aus Sprendlingen Opfer des Berufsbeamtengesetzes. Der Volksschullehrer Karl Friedrich Wolf war zwar nicht selbst Jude, aber mit einer jüdischen Frau verheiratet. Er wurde entlassen, weil er sich weigerte, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Seine Ehefrau wurde deportiert und im Juli 1943 in Auschwitz ermordet. Die beiden Kinder, die den Nationalsozialisten als „Halbjuden“ galten, überlebten, weil sie einen chilenischen Pass besaßen. Sie waren in Chile geboren worden, als ihr Vater dort als Auslandslehrer tätig war. Die 20-jährige Tochter Miriam versuchte noch in einer geradezu abenteuerlichen Aktion, ihre Mutter zu retten. Sie fuhr nach Auschwitz und sprach in der Lagerverwaltung vor. Dort behandelte man sie höflich, weil Chilenin war. Man sagte ihr, die Mutter käme bald wieder nach Hause, genaue Auskunft könne ihr nur die Gestapo in Frankfurt geben. Zu diesem Zeitpunkt war die Mutter längst tot.

 

Die fortschreitende gesellschaftliche Ausgrenzung und die Entrechtung der Juden machte die jüdischen Deutschen bes. ab 1935 (Nürnberger Gesetze) zu Freiwild für nationalsozialistische Gewalttäter und Fanatiker. In Dreieichenhain wurden die Häuser der jüdischen Familien im Juli 1935 mit Zetteln »Wer bei Juden kauft, ist ein Volks- und Staatsbetrüger« beklebt und mit der Parole »Tod den Juden« beschmiert.

Walter Wolf berichtete 1979 in einem Brief, sein Vater sei 1937 bei Offenthal vom Fahrrad gestoßen und auf offener Straße verprügelt worden – einfach so, weil er Jude war.

Es gab in Dreieich aber auch Menschen, die einiges riskierten, um jüdischen Nachbarn und Freunden zu helfen. So berichtete nach dem Krieg Johanna Wolf, dass ihr Nachbar in Sprendlingen, Jean Dreieicher, sich vor ihren Vater gestellt habe, als ihn Nationalsozialisten nach dem Pogrom 1938 verhaften wollten. „Wenn Ihr den Emil holt, müsst ihr auch mich mitnehmen.“, schleuderte er den Männern entgegen. Und – diese zogen unverrichteter Dinge ab. Jean Dreieicher geschah nichts.

Das allerdings war nicht die Regel: Wer mit jüdischen Einwohnern Kontakte pflegte, musste mit negativen Konsequenzen rechnen. Dazu zwei Beispiele: Das erste handelt vom Kommandanten der Sprendlinger Feuerwehr. In einer Meldung des Sprendlinger NSDAP-Ortsgruppenleiters vom 5. September 1935 heißt es:

„[…] dieser saubere Zeitgenosse [wurde] am Sonntag, dem 25. August 1935, in dem Augenblick fotografiert, als er mit seinem Sonntagsbraten den Laden des Judenmetzgers verließ. Im Stürmerkasten hängt dieser Außenseiter unter fünf weiteren Judenknechten.“

Der Stürmerkasten war ein öffentlicher Aushang der nationalsozialistischen Hetz-Zeitung „Der Stürmer“, der in jedem Ort an gut sichtbarer Stelle präsentiert wurde. Der Mann wurde also öffentlich an den Pranger gestellt.

Ein NSDAP-Mitglied aus Sprendlingen wurde im November 1935 aus der Partei ausgeschlossen. Die Begründung des Parteigerichts:

„Der Parteigenosse wird beschuldigt des Umgangs mit Juden […]. Die Hauptschuld des Angeschuldigten liegt darin, dass er tatsächlich der Jüdin Mira Strauß im Postamt zu Sprendlingen zu ihrer Verlobung gratuliert hat. […] Um eine Gratulation auszusprechen, muss im Inneren des Menschen ein gewisses Mitgefühl, eine gewisse Mitfreude und Anteilnahme an irgendeinem Geschehen vorhanden sein […]. Ein Parteigenosse, der an irgendeinem Familienereignis einer Jüdin in dem Maße Anteil zu nehmen glaubt, dass er sogar zu diesem Ereignis gratuliert, hat das Recht verwirkt, Parteigenosse zu sein.“

 

Die Politik der Isolierung der Juden von den Nicht-Juden funktionierte auch im Dreieicher Geschäftsleben. So mussten in Sprendlingen die jüdischen Einzelhändler Emil und Gustav Bendheim 1937 ihr Geschäft aufgeben, weil die Kunden wegblieben. Eben jener Emil Bendheim, der während der Weimarer Republik die Sprendlinger Fußballgemeinde zu den Auswärtsspielen gefahren hatte. Vater und Sohn Bendheim hatten seit 1922 ein Bekleidungs- und Kurzwarengeschäft in der Darmstädter Straße 2 – 4. Das Geschäft lief gut: 1929 beantragte Gustav Bendheim beim Amtsgericht, seinen Laden wegen seiner Größe „Kaufhaus“ nennen zu dürfen. Knapp acht Jahre später ließ er das Geschäft aus dem Handelsregister löschen, denn, so schrieb er, „meine Firma geht nicht mehr über den Umfang eines Kleingewerbes hinaus.“

 

Am 7. November 1938 verübte der deutsch-polnische Jude Herschel Gryspan in Paris ein Attentat auf den Legationssekretär der Deutschen Botschaft, Ernst vom Rath. Als vom Rath am 9. November starb, nutzte die NS-Führung die Bluttat zur Inszenierung brutaler Pogrome gegen die deutschen Juden.

Im Dreieichgebiet erhielt die SA-Brigade 50 in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 den Befehl, alle Synagogen in ihrem Aktionsbereich zu zerstören. Am Vormittag des 10. November fand außerdem in Offenbach eine Sitzung statt, auf der der NSDAP-Kreisleiter die Ortsgruppenleiter seines Amtsbezirks zur Gewalt gegen Juden aufforderte.

Der Befehl zum Pogrom kam also eindeutig von „oben“. Allein dieses eine lokale Beispiel straft die Behauptung der NS-Führung Lügen, in den Brandstiftungen habe sich der „Volkswille“ ausgedrückt, die Wut des Volkes über das Attentat von Paris.

Die Ereignisse, die sich während des Novemberpogroms in den Dreieichgemeinden abspielten, lassen sich nur bedingt rekonstruieren. Darüber berichten konkret nur zwei Dokumente. Das eine ist eine Bescheinigung des Götzenhainer NS-Bürgermeisters, nach der im Wohn- und Geschäftshaus des jüdischen Metzgers Emanuel Bendheim die Fensterscheiben eingeschlagen und die Ladeneinrichtung demoliert wurde. Das zweite Dokument ist eine Prozessakte aus der Nachkriegszeit zum Geschehen in Sprendlingen. Das Landgericht Darmstadt verurteilte 1946 einen ehemaligen SA-Hauptsturmführer aus Sprendlingen, NSDAP-Mitglied seit 1931, wegen Brandstiftung an der Sprendlinger Synagoge zu 2 Jahren Zuchthaus. Außer ihm war auch NSDAP-Ortsgruppenleiter Schäfer an der Brandstiftung beteiligt. Dieser war allerdings zu Prozessbeginn bereits verstorben.

In der Begründung des Urteils gegen den SA-Führer heißt es zum Tatverlauf des Pogroms:

„Der Angeklagte ist geständig, die Synagoge in Sprendlingen in Brand gesetzt zu haben. Nach seiner glaubhaften Einlassung wurde er in der Frühe dieses Tages von der Standarte in Offenbach telefonisch davon verständigt, dass nach der Ermordung von Raths alle Synagogen anzuzünden seien, und dass er für die Ausführung des Befehls in Sprendlingen ausersehen war. Der Angeklagte begab sich daraufhin sofort zu der Judenschule, einem kleinen Gebäude von 5 x 5 Meter, in dem die jüdische Gemeinde ihre Gottesdienste abzuhalten pflegte. Dort traf er den damaligen, inzwischen verstorbenen Ortsgruppenleiter Schäfer von Sprendlingen, der ihm nähere Anweisung für die Tat gab. Der Angeklagte hatte, wie er zugibt, keinerlei Bedenken gegen die Vernichtung der Synagoge als solcher. Er habe dem Ortsgruppenleiter lediglich eingewandt, dass es doch um das Baumaterial schade wäre; er hielte es für klüger, sie einfach abzureißen.

Schäfer bestand jedoch auf seiner Anweisung und schickte dem Angeklagten den Zeugen A, dem dieser dann befahl, Benzin zu holen. A kam mit dem Benzin alsbald zurück, das der Angeklagte, im Türrahmen des Gebäudes stehend, kurzerhand in den Raum hineingoss. „Mach’s kurz und bündig“ hätte der wieder dazukommende Ortsgruppenleiter erklärt, der dann seinerseits das Streichholz an das Benzin hielt. Der mit Holz verkleidete Raum ging sofort in Flammen auf, in etwa 20-25 Minuten war er völlig ausgebrannt. […]“

 

Nach dem Pogrom verhaftete man in ganz Deutschland ca. 30.000 jüdische Männer und männliche Jugendliche ab 16 Jahren und verschleppte sie in Konzentrationslager. Man wollte sie mit dieser Maßnahme unter Druck setzen, zu emigrieren. Die jüdischen Männer aus dem Dreieichgebiet wurden in das KZ Buchenwald eingeliefert. Unter ihnen war der damals 36-jährige Julius Bendheim aus Sprendlingen. Julius Bendheim verkraftete die psychische Belastung der menschenunwürdigen Lebensumstände, der Misshandlungen und Demütigungen im Lager nicht und bekam eines Nachts einen Schreikampf. Dieses verzweifelte Aufbäumen nahmen SS-Männer zum Anlass für einen kaltblütigen Mord an ihrem wehrlosen Opfer. Sie erschlugen Julius Bendheim. Julius Bendheim ist auf dem jüdischen Friedhof in Sprendlingen begraben. Seine Frau, sein 18-jähriger Sohn Kurt Artur und die 17-jährige Tochter Edith wurden im September 1942 deportiert und kamen in einem nationalsozialistischen Ghetto oder Vernichtungslager um. Genaues wissen wir nicht.

Der Ehrgeiz der Bürgermeister und NSDAP-Ortsgruppenleiter konzentrierte sich nach dem Pogrom darauf, ihre Gemeinden „judenfrei“ zu machen. Eine wichtige Handhabe dafür bot ihnen die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom 3. Dezember 1938. Danach konnten Juden gezwungen werden, ihren Besitz ganz oder teilweise an einen Nicht-Juden zu verkaufen. In Sprendlingen wurden Abraham Finkelstein, Albert Pappenheimer und Lina Morgenstern aufgefordert, innerhalb von vier Wochen ihre Grundstücke und Häuser zu einem Spottpreis zu veräußern – an Käufer, die der Bürgermeister bestimmte. Die Enteigneten mussten sich Mietwohnungen suchen. Aber auch dort konnten sie nur vorübergehend bleiben, denn ab dem 30. April 1939 konnte Juden ihre Wohnung ohne weitere Begründung gekündigt werden. Die Gekündigten mussten von anderen Juden als Mieter oder Untermieter aufgenommen werden. So entstanden auch in Sprendlingen – wie überall in Deutschland – sog. „Judenhäuser“, in denen ausschließlich Juden wohnten und die dort immer enger zusammengepfercht wurden. Eines dieser Häuser gehörte Daniel Hess in der Hauptstrasse 58 – 60, damals Straße der SA. Dort wurde im Frühjahr 1939 auf Veranlassung des Bürgermeisters Lina Morgenstern eingewiesen, wenig später auch Albert Pappenheimer mit drei Familienangehörigen sowie Flora Bendheim mit ihren zwei Kindern und ihrer Mutter.

 

Bis zum Kriegsbeginn hatten von den 174 Juden, die 1933 in Sprendlingen gewohnt hatten, 150 die Stadt verlassen, waren emigriert oder nach Frankfurt umgezogen, um in der größeren jüdischen Gemeinde und in der Anonymität der Großstadt einen besseren Schutz zu finden. Viele von ihnen wurden später von Frankfurt aus deportiert. 1939 und 1940 wanderten noch 8 Sprendlinger aus. Am 17. September 1942 wurden die 16 noch in Sprendlingen verbliebenen Juden auf einen Lastwagen verladen und zur Deportation nach Frankfurt gebracht. Von diesen 16 letzten Sprendlinger Juden hat keiner überlebt.

Von den aus Frankfurt Deportierten Dreieichenhainern kam nur Siegfried Grünebaum zurück; seine Mutter, sein älterer Bruder und sein Vater wurden ermordet. Der damals 15-jährige Siegfried Grünebaum wurde mit seinen Eltern und seinem Bruder im November 1941 in das Ghetto Minsk deportiert. Er schrieb 1964 in einem Artikel für die FAZ über das Schicksal seiner Familie:

„Ich erinnere mich noch ganz genau, dass wir zwei Tage vorher […] eine Karte erhielten, uns zur »Aussiedlung« bereitzuhalten. Es hieß damals, es ginge zu Arbeitsplätzen nach dem Osten. Ich, in meiner kindlichen Naivität, freute mich sogar darüber, endlich auch einmal eine große Reise machen zu können. Am 11. November 1941 kamen um 7 Uhr Gestapobeamte zu uns in die Wohnung. Wir mussten uns fertig machen und marschierten dann in einer fast endlosen Zugkolonne mit vielen anderen zur Großmarkthalle […]. Die Straßen Frankfurts waren umsäumt von neugierigen Zuschauern, darunter viel Pöbel mit ausgesprochen feindseliger Haltung. Meine Eltern, daran erinnere ich mich noch, waren in furchtbarer Stimmung.

Es war 22 Uhr, als die über tausend Menschen dann in den Zug einsteigen mussten. Wir waren in einem Personenabteil normal untergebracht. Das Coupé wurde abgeschlossen, es war nicht geheizt, wir bekamen auf der ganzen Fahrt nichts zu trinken. Wir fuhren so sechs Tage lang, bis wir des Nachts völlig erschöpft in Minsk ankamen.“

Im Ghetto Minsk mussten Siegfried Grünebaum und sein Vater in einer Fabrik Zwangsarbeit leisten, die Mutter wurde zu Arbeiten im Ghetto herangezogen. Siegfried Grünebaums Bruder arbeitete außerhalb des Ghettos in einem Kommando von 35 Jugendlichen für den NSDAP-Gauleiter Kube. Mitte 1942 kehrten die Gruppe eines Abends nicht mehr zurück. „Seit dieser Zeit“, so berichtete Siegfried Grünebaum, „habe ich nie wieder etwas von meinem Bruder gehört.“ Ein ähnliches Schicksal erlitt die Mutter. Auch sie kam eines Tages von der Arbeit nicht zurück und blieb seitdem verschollen.

Siegfried Grünebaum und sein Vater wurden im Oktober 1943 in die Nähe von Lublin verlegt, um dort als Handwerker im Flugzeugbau zu arbeiten. Dort starb der 60 Jahre alte Vater an Entkräftung. Der 17-jährige Sohn war nun der einzige Überlebende der Familie. Als 1944 die Rote Armee vorrückte, zog sich die SS mit ihren Gefangenen nach Westen zurück. Für Siegfried Grünebaum begann nun eine Odyssee durch verschiedene SS-Lager in Polen und Deutschland. Im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz ( östliches Bayern – Bayreuth, Erlangen, Regensburg) endete die Irrfahrt vorübergehend. Dann jedoch wurde Siegfried Grünebaum mit 1700 anderen KZ-Häftlingen zu Fuß Richtung Dachau geschickt. Wer von den entkräfteten Häftlingen nicht mehr laufen konnte, wurde erschossen. Aus dem Transport waren noch 800 bis 900 Menschen am Leben, als die Gefangenen schließlich am 23. April 1945 von Amerikanern befreit wurden. Siegfried Grünebaum kehrte Anfang Mai nach Frankfurt zurück.

Damals war der Zweite Weltkrieg im Frankfurter Raum seit mehr als einem Monat zu Ende. Am 26. März 1945 waren amerikanische Panzer in das südliche Frankfurter Umland eingedrungen und hatten die Gemeinden widerstandslos eingenommen. Die Dreieichgemeinden hatten am Kriegsende neben Gebäudeschäden 318 gefallene Soldaten, 195 Vermisste und 338 getötete Zivilpersonen zu beklagen.