FR 28.09.2024 Interview mit Eva Szepesi

„Wir wollten unsere Töchter schützen“
Als Anita Schwarz aufwächst, weiß sie nur, dass ihre Mutter Eva Szepesi Auschwitz überlebt hat. Mehr traut sie sich nicht zu fragen, mehr erzählen ihre Eltern nicht. Das Schweigen löst im Erwachsenenalter Panikattacken aus. Ein neues Buch über das vererbte Trauma in den Familien der Holocaust-Überlebenden erzählt auch ihre Geschichte Ein Interview von Kathrin Rosendorff

Die Auschwitz-Überlebende Eva Szepesi wird am Sonntag 92 Jahre alt. Ihre Tochter Anita Schwarz begleitet sie zu Zeitzeugen-Gesprächen und spricht selbst als zweite Generation. Renate Hoyer

Sie ist eine der letzten Überlebenden der Shoah: Eva Szepesi hat eine ansteckende Fröhlichkeit, trägt Jeans und weiße Sneakers und sieht Jahrzehnte jünger aus, als sie ist. An diesem Sonntag feiert die Frankfurterin ihren 92. Geburtstag. Als Zwölfjährige wäre sie in Auschwitz fast gestorben. Die Rote Armee befreit sie schwerkrank („Ich war nur noch ein Skelett“) aus dem Vernichtungslager am 27. Januar 1945. Ihre bewegende Geschichte erzählt sie seit Jahren an Schulen, in Vereinen und in TV-Talkshows. Anfang des Jahres hielt sie sogar am Holocaust-Gedenktag eine Rede vor dem Bundestag.
50 Jahre aber schwieg die gebürtige Ungarin wie viele Holocaust-Opfer aus „Scham“, um zu verdrängen und um ihre beiden Töchter nicht zu belasten. Doch das Trauma wird vererbt: Eva Szepesi und ihre jüngere Tochter Anita Schwarz (60) sind zwei der vielen Protagonist:innen des gerade erschienenen Buchs „Nie gefragt – nie erzählt: Das vererbte Trauma in den Familien der Holocaust-Überlebenden“ von Hans Riebsamen. Mutter und Tochter sitzen an diesem Tag zusammen im Geschäft „Pelze am Dornbusch“, das Eva Szepesi und ihr Mann vor 53 Jahren gegründet hatten.

Warum haben Sie Ihren Töchtern, als diese aufwuchsen, so wenig von Auschwitz und auch über Ihren Verlust der Mutter und des kleinen Bruder erzählt, Frau Szepesi?
Eva Szepesi: Ich wollte nicht mal mit meinem Mann, der 1993 gestorben ist und auch den größten Teil seiner Familie in der Shoa verloren hatte, darüber sprechen. Das tut mir bis heute leid. Wir wollten unsere Töchter schützen. Wir haben nicht mit ihnen darüber geredet, und sie haben nicht gefragt. Es wäre besser gewesen, wenn wir öfter darüber gesprochen hätten. Aber die Scham und der Schmerz waren zu groß. Ich hatte versucht, alles zu verdrängen. Aber das gelang nicht und äußerte sich dann anders: Ich konnte beispielsweise, als meine Töchter ausgingen, erst dann einschlafen, wenn sie zu Hause waren.

Hatten Sie Angst, dass ihnen etwas passiert ist?
Szepesi: Angst weiß ich nicht. Da war diese Unruhe in mir. Sie riefen immer an, wenn sie später kamen. Ich habe ihnen nie gesagt: „Du musst anrufen.“ Sie haben das aber irgendwie gespürt.
Anita Schwarz: Es war mein eigener Druck. Ich meldete mich, weil ich nicht wollte, dass meine Eltern beunruhigt sind.
Wie viel wussten Sie von dem Schicksal Ihrer Mutter, Frau Schwarz?
Schwarz: Ich bin mit der Muttermilch mit dieser Schwere aufgewachsen. Und es gab immer wieder Momente: Also wenn im Winter die Finger meiner Mutter aufgeplatzt sind, sagte sie nur, das komme von dem langen Stehen im Schnee während der Appelle in Auschwitz. Mehr sagte sie nicht. Damals waren Teile ihrer Finger abgefroren. Sie wollte uns schützen, aber es war auch ein Selbstschutz, dass wir nicht fragten. Ich erinnere mich als Kind, wie meine Mutter immer Panik bekam, wenn die U-Bahn länger im dunklen Tunnel stehenblieb. Und bis heute kann meine Mutter im Restaurant nicht an der Tür sitzen. Egal wie warm es ist, sie sagt immer, es ziehe. Erst viel später wusste ich, dass die Menschen in Auschwitz, die an der Tür der Baracke lagen, bald ermordet wurden, weil sie krank geworden waren.

Ihre Schwester Judith ist zwölf Jahre älter als Sie. Auch sie ist Teil des Buches. Sie wusste anfangs nicht mal, dass Sie jüdisch ist, nicht?
Schwarz: Meine Schwester war neun Jahre alt, als sie es erfahren hat. Sie ist noch in Ungarn geboren, und als meine Eltern 1954 nach Frankfurt kamen, gab es damals auch noch keinen jüdischen Kindergarten oder Schule. Sie hatten Ängste. Eine Bekannte hat meiner Mutter später gesagt: „Das kannst du nicht machen. Du musst deiner Tochter sagen, dass sie jüdisch ist.“
Szepesi: Ich konnte noch kein Deutsch sprechen. Mein Mann war als Mitarbeiter der ungarischen Handelsvertretung hierhergeschickt worden. Ich wollte anfangs gar nichts ins Täterland kommen. Es waren erst wenige Jahre nach dem Krieg vergangen und niemand wollte meine Geschichte in Deutschland hören.

Frau Schwarz, Sie besuchten bereits den jüdischen Kindergarten und Schule. Haben Sie sich da mit Freund:innen ausgetauscht?
Schwarz: Wir waren alle die zweite Generation. Wir wussten, dass unsere Eltern im Lager waren. Wir haben uns in der Jugendgruppe mit den Fakten des Antisemitismus auseinandergesetzt, aber nie mit unserer eigenen Familiengeschichte. Wir haben nie gefragt: „Was weißt du? Wo waren deine Eltern?“ Erst viele Jahre nachdem meine Mutter angefangen hatte, ihre Geschichte zu erzählen, fing ich an, mit meinen Freundinnen darüber zu reden. Und jetzt durch das Buch habe ich sehr viel von Freunden, mit denen ich aufgewachsen bin, erfahren. Es ist wie bei der ersten Generation: Wir müssen uns nicht erklären.

Frau Szepesi, 1994 schrieben Mitarbeiter:innen der Shoah Foundation des US-Regisseurs Steven Spielberg Sie an. Sie fragten, ob Sie zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz dorthin reisen und Ihre Geschichte erzählen möchten. Sie wollten erst nicht, reisten aber doch hin.
Szepesi: Ja und in der Atmosphäre von Auschwitz und mit den Jugendlichen der jüdischen Gemeinde, die mitgefahren waren, habe ich dann doch angefangen zu erzählen. Meine Töchter Anita und Judith waren auch dabei. Sie umarmten mich anschließend und sagten: „Das ist das erste Mal, dass wir deine Geschichte gehört haben.“

Viele Szenen sind selbst als Außenstehende schwer zu ertragen, beispielsweise, als Ihre Mutter in Auschwitz ankam und ihre geliebten Zöpfe abgeschnitten wurden, bevor sie kahlgeschoren wurde. Wie haben Sie das emotional ausgehalten?
Schwarz: Ich habe erst mal zugemacht als Selbstschutz. Als meine Mutter dann anfing, ihre Geschichte aufzuschreiben, hat meine Schwester ihr dabei viel geholfen. Ich konnte das nicht. Meine unterdrückten Gefühle sind später ausgebrochen. Als ich 40 Jahre alt war, bekam ich plötzlich Panikattacken. Ich konnte kein Auto mehr fahren. Ich hatte im Leben nicht daran gedacht, dass das mit der Geschichte meiner Mutter zu tun haben könnte. Das kam erst raus, als ich eine Therapie machte. Mein Sohn Leroy studiert Psychologie und hat seine Bachelorarbeit zu „Transgenerationale Traumaweitergabe an die zweite Generation von Holocaust-Überlebenden in Deutschland“ geschrieben. Das Trauma wird auch an die dritte und vierte Generation weitergegeben.
Szepesi: Als meine Enkelin Celina klein war, sah sie meine etwas verblasste eintätowierte Häftlingsnummer A-26877 auf dem linken Unterarm und fragte mich: „Warum hast du dir da was auf die Hand geschrieben? Das darf man doch nicht.“ Sie dachte, das sei so was wie ein Spickzettel. Ich sagte ihr: „Das haben böse Menschen gemacht.“ Sie sagte: „Geh weg, böse Menschen.“
Schwarz: Auch Jahre später, als meine Kinder ausgegangen sind, fröhlich waren und dann einen Stempel am Einlass eines Clubs auf die Hand bekommen haben, waren sie plötzlich wie in einem schrecklichen Film drin. Neulich fragte der Urenkel meiner Mutter: „Hattest du in Auschwitz eine Zahnbürste bekommen, um deine Zähne zu putzen?“ Diese Frage hat mich extrem berührt.

Und was haben Sie geantwortet, Frau Szepesi?
Szepesi: Dass ich keine hatte und versucht habe, sie so gut es ging mit dem Finger zu putzen. Obwohl er noch so klein ist, hat er sehr feinfühlig reagiert.

2016 bat Sie Ihre Enkeltochter, noch einmal mit Ihrer Familie nach Auschwitz zu reisen. Dabei entdeckte sie den Namen Ihrer Mutter und Sie selbst den ihres kleinen Bruders Tamás, der mit sieben Jahren im KZ ermordet wurde. Wieso war das ein emotionaler Wendepunkt?
Szepesi: Das war zunächst eine schreckliche Bestätigung. Nach 71 Jahren. Obwohl ich wusste, dass ich nicht mehr hoffen konnte, habe ich im Unterbewusstsein noch gewartet. Denn als ich aus Auschwitz zurückkam, hatte mein Onkel gesagt: „Jeden Tag kommen Transporte zurück. Wir warten.“ Also habe ich auf meine Mutter und meinen Bruder gewartet. Erst als ich ihre Namen in Auschwitz las, konnte ich weinen und trauern. Ihre Fotos, die jahrelang in der Schublade lagen, stehen seitdem auf meiner Kommode. Jeden Tag schaue ich sie an und denke: Wie sehr hat meine Mutter gelitten, als sie mich zur Flucht allein wegschickte? Ich beschäftige mich jetzt mehr als vor Jahren mit diesen Fragen, die ich so lange verdrängt hatte.

Anfang des Jahres hielten Sie eine sehr bewegende, persönliche Rede vor dem Deutschen Bundestag am Holocaust-Gedenktag. Sie betonten: „Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft.“ Jetzt feiert die AfD viele Erfolge, der Krieg im Nahen Osten ist fern von Friedensverhandlungen. Wie gehen Sie damit um?
Szepesi: Ich kann die Nachrichten kaum ertragen. Seit dem 7. Oktober hat sich unser Leben komplett verändert. Ich mache mir Sorgen, wie es weitergeht für die nächsten Generationen.
Schwarz: Meine Mutter geht seit Jahren als Zeitzeugin an Schulen. Und manchmal denken wir: Hat das alles nichts gebracht? Aber trotzdem müssen wir weitermachen. Und wenn wir nur einen Menschen erreichen.

Haben Sie Angst, dass sich die Geschichte in Deutschland wiederholt?
Szepesi: Das Ganze kann sich wiederholen, wenn man nicht aufmerksam ist und wenn man einfach alles glaubt, was man hört, ohne dies zu hinterfragen. Viele kennen keine Juden persönlich, haben aber was gegen sie. Das verstehe ich nicht. Wir müssen jetzt abwarten, was passiert.
Schwarz: Du sagst du wartest ab, aber du bist diejenige, die nicht zu Hause abwartet. Du gehst weiter an Schulen. Es ist aber jetzt genauso wichtig, dass die zweite und dritte Generation wie jetzt in dem Buch spricht. Warum? Für viele Jugendliche ist meine Mutter sozusagen Geschichte, es ist interessant, ihre Geschichte zu hören. Aber es ist für sie schon so lange her. Im Schulunterricht hört es immer mit der Shoah auf, also mit toten Juden. Aber es ist wichtig zu zeigen, dass es ein jüdisches Leben nach der Shoah gibt. Viele junge Menschen glauben nicht, dass auch die zweite oder dritte Generation von Antisemitismus betroffen ist. Deswegen müssen sie dafür sensibilisiert werden, eben nicht antisemitische Inhalte in Chats weiterzuleiten und auch nicht zu schweigen oder zu lachen, wenn ein jüdischer Mitschüler angegriffen wird.

Frau Szepesi, Sie feiern am Sonntag Ihren 92. Geburtstag. Als Zwölfjährige haben Sie Auschwitz nur überlebt, weil die Aufseher dachten, Sie seien bereits tot, als sie die anderen Menschen zum Todesmarsch zusammentrieben. Sie wurden sehr krank auf der Pritsche „zwischen Toten und Halbtoten“ liegen gelassen. Das war wenige Tage vor der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945. Welche Bedeutung hat Ihr Geburtstag für Sie seitdem?
Szepesi: Geburtstage sind mittlerweile sehr schön für mich. Ich erinnere mich aber noch an meinen sehr traurigen zwölften Geburtstag. Das war in diesem jüdischen Altersheim, von wo aus jeden Tag die Transporte zum Sammellager nach Sered und dann nach Auschwitz gingen. Die Köchin hat mir eine größere Portion zu essen gegeben und mir zugeflüstert, ich solle bloß nicht auffallen und deswegen niemandem sagen, dass ich Geburtstag habe. Sie hoffte, dass ich so eine der Letzten bin, die nach Auschwitz deportiert werden. Schon zuvor, also ab dem Moment, wo ich alleine auf der Flucht getrennt von meiner Mutter und meinem kleinen Bruder war, wusste ich: „Du bist jetzt fertig mit dem Kindsein.“ Die Befreiung von Auschwitz war wie eine Neugeburt für mich. Meinen 13. Geburtstag habe ich dann in Budapest bei meinem Onkel und meiner Tante gefeiert. Mein erstes Geschenk von ihnen waren ein sehr schönes Poesiealbum und eine Tafel Schokolade.
„Es gab immer wieder Momente: Wenn im Winter die Finger meiner Mutter aufgeplatzt sind, sagte sie nur, das komme von dem langen Stehen im Schnee während der Appelle in Auschwitz. Mehr nicht.“
Anita Schwarz

Quellenangabe: Darmstadt vom 28.09.2024, Seite 53